Es wäre naiv zu glauben, dass Männer die Interessen von Frauen vertreten
Wer mit Kindern, pflegebedürftigen Eltern oder Angehörigen lebt, weiß: Sorgearbeit hält unseren Alltag am Laufen. Doch sie ist unsichtbar und unbezahlt. Das Bündnis Equal Care, bei dem auch MIN mitwirkt, setzt sich dafür ein, dass diese Arbeit fair verteilt und endlich anerkannt wird. Im Interview mit Dr. Michaela Mahler, Projektleiterin Equal Care München, sprechen wir darüber, warum „Equal Care“ mehr ist als ein Schlagwort – und was sich jetzt ändern muss.
Die Anmeldungseite vom Equal Care Day München, der am 28. Februar 2026 stattfindet, ist geöffnet.

Welche Themen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt und warum braucht es gerade jetzt diese Schwerpunkte?
Unser Motto in diesem Jahr lautet: „Sorgearbeit gerecht verteilen – Demokratie stärken.“ Es geht darum, wie Menschen mit Sorgeverantwortung besser an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen teilhaben können. Frauen übernehmen nach wie vor den Großteil dieser Arbeit und können sich aufgrund begrenzter zeitlicher und mentaler Kapazitäten nicht im gleichen Maße für ihre Interessen einsetzen wie Menschen, die keine oder nur wenig Sorgearbeit leisten.
Gleichzeitig sinkt der Frauenanteil in der Politik. Aktuell sind 32,4 Prozent der Abgeordneten im Bundestag Frauen, was einem Rückgang gegenüber der letzten Wahl entspricht. Wenn Care-Arbeitende ihre Interessen nicht selbst einbringen können, bleiben sie ungehört. Es wäre naiv zu glauben, dass Männer die Interessen von Frauen angemessen vertreten können.
Wie schafft mehr Fairness in der Care-Arbeit stärkere demokratische Strukturen?
Wie bereits erwähnt, haben Menschen mit Sorgeverantwortung oft kaum Zeit für Politik oder ein Ehrenamt. Ihre Stimmen fehlen in wichtigen Debatten.
Eine faire Verteilung von Carearbeit erfordert einen gesellschaftlichen Ausgleich. Sorgearbeit ist die Basis unseres Zusammenlebens. Sie bildet das Fundament unserer Gesellschaft. Ohne sie bricht alles zusammen. Und gerade bei der Kindererziehung geht es darum, junge Menschen mit Bildung und sozialer Kompetenz für das zukünftige Leben auszustatten. Davon profitiert dann die ganze Gesellschaft.

Das Programm am Equal Care Day in München verspricht viele Höhepunkte. Worauf freust du dich persönlich am meisten – und warum?
Als Keynote-Speakerin kommt Jo Lücke. Sie ist eine der bekanntesten Stimmen im Bereich Sorgearbeit und hat unter anderem den Mental-Load-Test entwickelt. Gemeinsam mit Franzi Helms gründete sie den Verein „LuA – Liga für unbezahlte Arbeit“. Diese gewerkschaftsähnliche Organisation setzt sich für die Interessen von Menschen ein, die familiäre Sorgearbeit leisten. Eines ihrer Hauptziele ist es, Sorgearbeit als Diskriminierungsmerkmal im Grundgesetz zu verankern.
Mit dabei ist auch die Autorin und Aktivistin Natascha Sagorski. Sie spricht über Demokratie und Elternschaft. Ebenso auf der Bühne: die Soziologin Mina Mittertrainer. Ihr Fokus liegt auf Demokratie, Geschlecht, Jugend und Sozialräumen. Für musikalische Impulse sorgt die Rapperin Gündalein. Durch den Tag führt Kristina Weber vom BR, bekannt durch den von ihr gegründeten Podcast „Eltern ohne Filter“.
Hier das Programm
Wie steht es um die Finanzierung?
Leider erhalten wir diesmal auf Grund der aktuellen Haushaltslage deutlich weniger Gelder von der Stadt München. Das betrifft insbesondere die Übersetzung der Vorträge in Gebärdensprache und die inklusive Kinderbetreuung. Das Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in München, das diese Posten bisher immer finanziert hat, fördert auf Grund der aktuellen Haushaltslage derzeit keine Einzelprojekte mehr. Das sendet ein fatales Signal. Gerade Inklusion und Care-Arbeit sollten eine feste Grundlage haben. Wir werden trotzdem versuchen, eine Kinderbetreuung in einem begrenzten Rahmen zu ermöglichen.
Insgesamt steht die Finanzierung jedoch auf wackligen Beinen. Zwar unterstützen uns Stiftungen wie die Heidehof Stiftung, doch die wirtschaftliche Lage macht sich bemerkbar.
Schauspieler Martin Walde übernimmt die Schirmpatenschaft. Was macht ihn zu einer guten Wahl für diese Rolle?
Er ist Vater und tritt derzeit beruflich kürzer, um sich um sein Kind zu kümmern. Das macht ihn zu einem guten Vorbild, denn genau darum geht es ja bei Equal Care. Dass sich auch die Väter beruflich zurücknehmen, um den Müttern mehr berufliche Chancen und politische Teilhabe zu ermöglichen.
Der Equal Care Day in München entsteht gemeinsam mit vielen BündisPartner*innen. Wie groß ist das Netzwerk inzwischen – und was macht die Münchner Szene besonders?
Unser Netzwerk ist weitergewachsen. Inzwischen zählen wir 22 Organisationen zu unserem Bündnis. Besonders ist für uns, dass so viele engagierte Menschen seit drei Jahren dabei sind. Vieles läuft ehrenamtlich, mit Herzblut und Energie, und die Motivation lässt auch im dritten Jahr nicht nach.
Gleichzeitig kommen immer wieder neue, motivierte Menschen hinzu, die ihre Fähigkeiten einbringen und das Projekt weiter voranbringen. In diesem Jahr neu dabei ist zum Beispiel die An Deiner Seite Stiftung mit ihrem Fokus auf Young Carers. Dabei handelt es sich um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in ihrer Familie Sorgearbeit leisten müssen und dadurch keine normale Jugend haben, inklusive großen Nachteilen in der Schule oder ihrer Ausbildung – eine Gruppe, die kaum eine Lobby hat.
Welche politischen Maßnahmen werden derzeit diskutiert, die zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen für Sorgearbeitleistende führen könnten?
Die Freistellung der Väter bei der Geburt wäre das absolute Minimum. Aktuell bleibt die Mutter oft nach der Geburt allein mit dem Neugeborenen zu Hause, während Väter kaum eine bezahlte Freistellung erhalten. Die erste Zeit ist sowohl körperlich als auch mental sehr fordernd. Dies war zwar im Koalitionsvertrag vorgesehen, ist mittlerweile aber vom Tisch.
Außerdem ist die Einführung einer Kindergrundsicherung, die staatliche Leistungen für armutsbetroffene Kinder bündelt, längst überfällig. So müssten Familien nicht mehr viele verschiedene Anträge stellen, um Unterstützung für ihre Kinder zu erhalten – ein Bürokratiedschungel, in dem sich viele nicht zurechtfinden. Oft arbeiten Eltern schlecht bezahlt, sodass in Deutschland viele Kinder in absoluter Armut leben.
In der Stadt gibt es viele Möglichkeiten, das Leben von Familien zu verbessern. So könnte beispielsweise die Abwicklung von Anträgen im Sozialreferat so gestaltet werden, dass Menschen nicht wie Bittsteller behandelt werden. Auch die Pflege von Kindern mit Behinderung müsste stärker unterstützt werden. In der Stadtplanung werden die Bedürfnisse von Frauen mit Kindern bisher kaum berücksichtigt, beispielsweise im öffentlichen Raum oder bei der Infrastruktur. Hier gibt es jedoch in letzter Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Weiterentwicklung.
Wenn du einen Wunsch frei hättest: Welche Veränderung im Bereich Equal Care würdest du 2026 anstoßen?
Eine persönliche Utopie wäre beispielsweise die 30-Stunden-Vollzeit. Frauen müssten dann nicht mehr in Teilzeit arbeiten und Männer hätten Zeit, ihren Teil der Carearbeit zu übernehmen. Andere Länder und Unternehmen zeigen bereits, dass solche Modelle funktionieren. Die Menschen sind gesünder, motivierter und arbeiten produktiver. Frauen, die wieder in den Beruf einsteigen möchten, könnten so unterstützt werden. Dadurch gäbe es auch wieder mehr Personal in der Pflege und Kinderbetreuung. In diesen Bereichen herrscht derzeit starker Personalmangel, was das gesamte Funktionieren unserer Gesellschaft und Wirtschaft bedroht.
Die politische Debatte geht allerdings gerade in die andere Richtung. Es wird gefordert, dass alle mehr und länger arbeiten sollen. Gerade wurde ein Gesetz verabschiedet, das die tägliche Höchstarbeitszeit zugunsten einer wöchentlichen Betrachtung flexibilisiert. Das wirkt sich wiederum direkt negativ auf Menschen mit Sorgearbeit aus.
Die Veranstaltung findet am Samstag, 28. Februar 2026, von 10 bis 17 Uhr im Kulturzentrum LUISE @luise.kultur , Ruppertstraße 5, 80337 München statt.